Stockwerkeigentum: persönlicher Lebensraum mit Pflichten

Seit Mitte der 1960-er-Jahre ist Stockwerkeigentum im Trend. Ursprüngliches Ziel war es, dass Schweizer BürgerInnen günstiger zu Wohneigentum kommen können, ohne gleich einen teuren Hauskauf stemmen zu müssen. Seither wurden in der Schweiz zahlreiche Wohnungen für Stockwerkeigentum gebaut, wovon zirka 1,4 Millionen bewohnt sind. Bauen fordert. Auch nach der Fertigstellung. Dann beginnt der Beziehungsaufbau zu den MitbewohnerInnen, ein «Bau», der Zeit und Geduld erfordert und das Wohnerleben stark beeinflussen kann.

Unserer Vorfahren waren Nomaden. Mit Sippe, Herde, Sack und Pack zogen sie dorthin, wo es sich eine Zeitlang gut leben liess – und dann wieder weiter. Die Natur wurde respektiert und nicht als Eigentum betrachtet. Irgendwann machten wir uns sesshaft. Alles andere blieb. Die Sippe, die Herde, Sack und Pack und der Wunsch, an einem guten Ort leben zu können. Letzteres wurde immer mehr zur Machtfrage. Den Reichen die Perlen, den Armen die Steine.

Lebensraum war und ist auch heute noch etwas vom Wichtigsten im Leben eines Menschen.

Als 1965 in der Schweiz die ersten Eigentumswohnungen gebaut wurden, wurden Träume vieler Menschen wahr. Bescheidenes Vermögen und trotzdem etwas Eigenes haben. Mit den Wohnungen kamen allerdings auch neue Herausforderungen dazu.

Lebensraum, der einem gehört – und dann eben doch nicht so ganz sein Eigen ist.

In einer Stockwerkeigentümergemeinschaft zu leben bedeutet, anderen räumlich näher zu sein, als es einem manchmal lieb ist. Zumindest, was den persönlichen Wunsch nach Freiheit angeht.

Geordnet durch Regeln. Manchmal stellen wir uns Freiheit anders vor.

Stockwerkeigentum: persönlicher Lebensraum mit Pflichten

Stockwerkeigentümer-Reglement

Es ist das Jahr 2025. Vom einstigen nomadischen Wunsch ist kaum noch etwas übrig. Die meisten von uns wollen sesshaft sein. Dies bedeutet auch, dass wir dafür sorgen, dass alles in unserer näheren Umgebung sich gern nach unseren Vorstellungen verhält – oder verändert wird.

Für viele Menschen ist Nähe eine Herausforderung. Je näher, desto dünnhäutiger können wir reagieren – und sind uns dabei manchmal selbst am meisten fremd…

Darum braucht es ein gemeinsames Ziel (faires Zusammenleben) und ein Reglement. Das Stockwerkeigentümer-Reglement regelt das Zusammenleben im öffentlichen gemeinsamen Raum der Gemeinschaft.

Es gibt den einzelnen Parteien eine gewisse Sicherheit.

Das muss es auch. Denn die Wohnung ist nur das eine. Das andere ist – und das ist eigentlich die Hauptsache – wie schön wir das Leben darin empfinden. Werden unsere Erwartungen erfüllt, unsere Werte? Und wie steht es um die Fähigkeit des Zusammenlebens? Da sind wir gefordert.

Wie schnell sind wir versucht, uns als den Mittelpunkt der Erde zu sehen.

Darum lassen Sie uns unseren Blick kurz weiten.

Die demografische Entwicklung der Schweiz ist spürbar

In der Schweiz leben Menschen aus Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Portugal, Spanien, aus dem Balkan, aus Asien, Afrika – aus aller Herren Länder. Alle diese Menschen bringen eigene Traditionen mit und daraus resultierende Werte. Ebenfalls ein wichtiger und das Zusammenleben beeinflussender Faktor ist die Religion.

Heisst: Wenn wir fremde Menschen sehen, sehen wir nur das Äussere. Mit unserer eigenen Sicht. Vielleicht sehen wir sie so, wie wir sie gerne hätten und nicht, wie sie sind.

Also nicht wirklich…

Wir haben keine Ahnung, in welchen Situationen sie wie reagieren und welche unserer Aussagen oder Handlungen sie freuen oder sie zur Weissglut treiben. Das gilt auch umgekehrt.

Die gute Nachricht: Seit zirka 1850 lebt die Schweiz von Einwandern (siehe dazu auch «Die Entwicklung der Industrie in der Schweiz und deren Auswirkungen ab 1850» auf schweiz-kantone.ch). Wahrscheinlich sind wir ursprünglich alle von irgendwoher eingewandert. Und immerhin haben wir gut 200 Jahre lang Wege gefunden, mit anders denkenden und lebenden Menschen unterwegs zu sein. Das gelingt uns, wenn…

…wir gemeinsame, geregelte Ziele und Werte haben, die erfüllt werden. Sobald es jedoch darum geht, wer recht hat, kommt es zu Konflikten.

Eine Stockwerkeigentümer-Gemeinschaft ist eine Art Swissminiatur

Diese typisch schweizerische Vielfalt, diese Vermischung von Volksgruppen, kann es auch in Stockwerkeigentumsgemeinschaften geben.

Der sichere Tod des allseits gewünschten Friedens ist, wenn man das Ziel aus den Augen verliert. Wenn sich kleinere gegensätzliche Gruppen bilden, im Sinne von «Wir sind die Guten!».

In der Folge lebt das Nomadische in uns wieder auf. Wir ziehen weiter. Und sei es nur innerlich! Wir wollen möglichst nicht mehr «damit zu tun haben». Werden unflexibler. Damit verlieren alle. Zerstörte Beziehungen wieder aufzubauen, kostet uns mehr Kraft, als die Renovation unserer Wohnung.

Konflikte sind oft ein Zeichen, dass man sich auseinandergelebt hat. Oder noch gar nicht zusammengefunden. Ein friedliches Zusammenleben ist dann möglich, wenn alle Parteien die Vielschichtigkeit der MitbewohnerInnen akzeptieren – unabhängig welchen Ursprungs sie sind.

Das Zusammenrücken geht weiteren

Die Schweiz wächst weiter – bevölkerungsmässig – und damit nimmt der Bedarf an Wohnraum zu. Wo bisher Einfamilienhäuser standen, werden neu Blöcke mit Mietwohnungen und Stockwerkeigentum gebaut.

Weniger Raum führt zu mehr Nähe. Physisch. Akustisch. Psychisch.

Der Klimawandel tut noch das Seine dazu. Steigt die globale Durchschnittstemperatur weiter an, wird prognostiziert, dass Hitze und Trockenheit sowie Überschwemmungen dazu führen werden, dass ein Drittel der Menschheit ihre Lebensgrundlage verliert.

Unbewohnbare Situationen sind der Grund, uns auf unsere die Lebensweise unserer Vorväter zurückzubesinnen. Wir ziehen dorthin, wo es sich leben lässt. Im Gepäck Hoffnung, Wünsche, Verletzungen, Erfahrungen und Ziele.

Konkrete Vorstellungen führen zu konkreten Erwartungen.

Die Frage der Ziele und der Beziehungsfähigkeit

Jeder Mensch hat Ziele. Persönliche und übergeordnete. Ziele helfen uns, uns zu orientieren und fokussierter zu leben.

Insbesondere die übergeordneten Ziele bilden die wichtigen Grundlagen für das Zusammenleben.

Machbare und glaubwürdige Legislative (Gesetzgebung) wird verstanden. Die Exekutive (= Ausführung) fordert unsere Beziehungsfähigkeit und ist das A und O des Zusammenlebens. Nähe und Distanz werden über unsere Beziehungsfähigkeit geregelt und geklärt.

Letztendlich braucht es beides: Nähe und Distanz. Sie schaffen Rahmenbedingungen und schützen unsere Möglichkeiten.

Der eigentliche Wohnungsbau mag irgendwann beendet sein. Dann folgt der Beziehungsaufbau. Dieser ist und bleibt eine Lebensaufgabe – den wir zu einem grossen Teil selbst in den Händen haben.

Und so sind wir irgendwie doch noch Nomaden. Wir müssen uns aufmachen, um loszulassen und zu teilen. Der Schlüssel dazu ist unsere Beziehungsfähigkeit.

© bauszene.ch,15.7.2025

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